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Was ist High-Functioning Anxiety?

In meinen 15 Jahren als Führungskraft habe ich unzählige Kollegen und Mitarbeiter kennengelernt, die auf den ersten Blick bestens organisiert, erfolgreich und engagiert wirkten. Doch in vertraulichen Gesprächen, oft spätabends nach einem langen Arbeitstag, zeigte sich ein anderes Bild: innerer Druck, permanente Selbstzweifel und ein ständiges Gefühl, „nie genug zu tun“. Genau darum geht es bei High-Functioning Anxiety – Menschen, die nach außen alles im Griff haben, im Inneren aber von Angst und Anspannung angetrieben werden. Die Realität ist, dass High-Functioning Anxiety auch im Business-Kontext eine unterschätzte Kraft ist: Sie treibt Leistung, kostet jedoch auf Dauer enorme Energie.

Die verborgene Natur von High-Functioning Anxiety

High-Functioning Anxiety ist schwer zu erkennen, weil Betroffene kaum klassische Symptome zeigen. Sie wirken nach außen ruhig, souverän und produktiv. Doch diese Fassade täuscht. In Wirklichkeit laufen innerlich unzählige Gedanken gleichzeitig: „Habe ich auch wirklich nichts vergessen?“ oder „Bin ich gut genug, um diese Position zu halten?“

Ich habe mit Führungskräften gearbeitet, die konstant hervorragende Ergebnisse ablieferten und gleichzeitig jeden Abend schlaflos im Bett lagen, weil das Gedankenkarussell nicht stoppte. Das Problem ist weniger die Angst selbst, sondern dass sie permanent kaschiert wird. Das führt über die Jahre zu Erschöpfung, Burnout oder Entscheidungslähmungen.

Die verborgene Natur erklärt auch, warum betroffene Personen nicht um Hilfe bitten. Sie fürchten, ihre Leistungsfähigkeit könnte infrage gestellt werden. Entscheidend ist, diese Dynamik zu durchschauen, bevor sie Schaden hinterlässt – sowohl in Unternehmen als auch im Privatleben.

Typische Anzeichen im Arbeitsumfeld

Anders als offene Angststörungen äußert sich High-Functioning Anxiety subtil. Typische Anzeichen sind Perfektionismus, Überstunden, ständige Erreichbarkeit und das Vermeiden von Fehlern um jeden Preis.

Ein Beispiel: Ich hatte einen Mitarbeiter, der nie Projekte übergab, bevor nicht wirklich jedes Detail kontrolliert war. Einerseits beeindruckend – aber irgendwann verlangsamte das ganze Team. Die Angst, nicht perfekt zu liefern, wurde zum echten Produktivitätskiller.

Weitere Signale: permanente Nervosität in Meetings, das Bedürfnis, immer vorbereitet zu sein, und Schwierigkeiten abzuschalten. Interessanterweise wird dieses Verhalten von vielen Firmen sogar belohnt – man sieht nur die Leistung, nicht das, was sie innerlich kostet. Genau hier liegt die Management-Falle: Fleiß und Angst werden verwechselt.

Ursachen und Hintergründe

Die Ursachen liegen oft tiefer als ein einzelnes Ereignis. Viele Betroffene berichten, dass die Muster schon in der Kindheit begannen: Leistungsdruck, hohe Erwartungen oder ständige Vergleiche. Im Business kommt dann die nächste Stufe – Konkurrenzdruck, Deadlines, Marktunsicherheit.

Ich erinnere mich noch gut an die Finanzkrise 2008. Damals war das Klima von Unsicherheit geprägt. Einige Kollegen entwickelten regelrecht einen „Überlebensmodus“, in dem Fehler machen keine Option war. Jahre später hielten diese inneren Muster noch immer an – obwohl das Umfeld längst entspannter war.

High-Functioning Anxiety ist also selten situativ. Es ist oft eine Konditionierung über Jahre. Wer das versteht, erkennt schneller, dass eine kurzfristige Strategie nicht reicht. Was wir brauchen, ist eine langfristige Entlastung.

Auswirkungen auf Karriere und Führung

Auf den ersten Blick kann High-Functioning Anxiety eine Karriere sogar befördern. Menschen mit diesem Muster sind pünktlich, vorbereitet, liefern Qualität. Kurzfristig beeindruckt das Vorgesetzte. Langfristig jedoch kippt das Bild.

Ich habe es mehrfach erlebt: Top-Mitarbeiter werden befördert, doch in der neuen Rolle brechen die Mechanismen zusammen. Die innere Angst lässt Entscheidungen wie eine Gefahrenquelle wirken, kreative Risiken werden gemieden. Anstatt zu führen, kontrollieren sie Details. Das kann ganze Teams blockieren.

Das größte Risiko ist aber die eigene Gesundheit. Wer permanent angespannt arbeitet, steht irgendwann vor klassischen Erschöpfungssymptomen. Und seien wir ehrlich: Krankenstände durch Burnout treffen auch die Organisation hart. Deshalb ist High-Functioning Anxiety kein Privatthema, sondern ein Business-Risiko.

Strategien im Business-Alltag

Die Frage ist nicht, ob man High-Functioning Anxiety ignorieren kann – man kann es nicht. Die Frage ist, wie man damit arbeitet. Eine Strategie, die ich mehrfach erfolgreich gesehen habe, ist das bewusste Setzen von Prioritäten. Nicht jede Aufgabe hat denselben Wert. Wer versucht, alles in Perfektion zu erledigen, verliert. Das 80/20-Prinzip hilft hier ungemein.

Zweitens: klare Grenzen. Ich habe Führungskräfte erlebt, die plötzlich festlegten: Ab 20 Uhr keine E-Mails mehr. Anfangs skeptisch, später erleichtert. Plötzlich entstand Raum für Erholung, ohne dass die Performance einbrach.

Am Ende geht es darum, Angst nicht als Antrieb, sondern als Signal zu verstehen. Das klingt banal, ist aber ein entscheidender Mindshift.

Praktische Tipps aus der Erfahrung

Hier sprechen wir nicht über theoretische Stressbewältigung, sondern handfeste Werkzeuge. Ein einfaches Instrument, das ich selbst nutze: „Done-Listen“. Nicht nur To-Do-Listen, sondern bewusst Erfolge aufschreiben – auch kleine. Das verschiebt den Fokus von „noch nicht geschafft“ zu „schon gemacht“.

Auch Atemtechniken in Meetings wirken erstaunlich schnell. Ich habe Führungskräfte gesehen, die dadurch nervöse Redeangst reduzierten, sichtbar souveräner auftraten und das Vertrauen im Team stärkten.

Was ich aus der Praxis gelernt habe: Kleine Routinen schlagen große Theorien. Es geht nicht darum, ein völlig angstfreies Leben zu führen – sondern darum, im Alltag funktionsfähig zu bleiben, ohne dabei innerlich auszubrennen.

Unterschied zwischen normalen Stress und High-Functioning Anxiety

Jeder im Business kennt Stress. Der Unterschied: Stress ist meist an eine Situation gebunden. Nach dem Projektende flacht er ab. High-Functioning Anxiety dagegen läuft dauerhaft im Hintergrund, unabhängig von Deadlines.

Ich hatte einmal einen Kollegen, der nach jedem Quartalsabschluss sichtbar erleichtert war – klassischer Stress. Ein anderer hingegen wirkte nie befreit, auch nicht nach großen Erfolgen. Er fand sofort den nächsten Grund zur Sorge. Genau das ist High-Functioning Anxiety: ein permanenter, selbstverstärkender Zustand.

Zu erkennen, ob man „nur“ gestresst ist oder dauerhaft gefangen, ist der erste Schritt. Denn nur bei High-Functioning Anxiety braucht es langfristige Strategien.

Der Einfluss auf Unternehmenskultur

Was oft vergessen wird: High-Functioning Anxiety ist ansteckend – kulturell. Mitarbeitende sehen, wenn Kollegen rund um die Uhr erreichbar sind. Schnell wird das zum stillschweigenden Standard.

Eine Firma, für die ich einst arbeitete, hatte genau dieses Problem. Offiziell predigte man „Work-Life-Balance“. Inoffiziell sah jeder, dass Beförderungen an jene gingen, die permanent präsent waren. Resultat: eine Kultur der Angst, nicht der Leistung.

Der Lerneffekt daraus: Führungskräfte tragen hier enorme Verantwortung. Es reicht nicht, Regeln aufzustellen. Das Verhalten muss auch vorgelebt werden.

Fazit

Die Wahrheit ist: High-Functioning Anxiety verschwindet nicht einfach. Doch Unternehmen und Einzelpersonen können lernen, damit umzugehen. Für den Einzelnen heißt das, Angst als Signal zu nutzen, Grenzen zu setzen und Prioritäten radikal ehrlich zu bewerten. Für Unternehmen bedeutet es, kulturelle Rahmenbedingungen zu schaffen, die Leistung fördern, ohne innere Zerrüttung voranzutreiben.

Am Ende geht es nicht darum, Angst loszuwerden, sondern sie nicht länger zum unsichtbaren Steuerungsmechanismus zu machen. Ein praktischer Überblick dazu findet sich übrigens auch bei psychcentral.

FAQs

Was ist High-Functioning Anxiety?

High-Functioning Anxiety beschreibt einen Zustand, in dem Menschen leistungsfähig wirken, innerlich jedoch dauerhaft angespannt sind.

Wie unterscheidet sich High-Functioning Anxiety von normalem Stress?

Stress ist meist temporär und verschwindet nach Belastungsspitzen. High-Functioning Anxiety bleibt als Dauerzustand bestehen.

Welche Symptome sind typisch im Berufsleben?

Perfektionismus, Überstunden, ständige Erreichbarkeit und Schwierigkeiten abzuschalten sind klassische Signale.

Kann High-Functioning Anxiety Karrieren fördern?

Kurzfristig ja, durch Fleiß und Disziplin. Langfristig jedoch blockiert die Angst Entscheidungsfähigkeit und Kreativität.

Welche Ursachen führen zu High-Functioning Anxiety?

Häufig entsteht es durch jahrelangen Leistungsdruck, hohe Erwartungen in der Kindheit und berufliche Unsicherheit.

Welche Rolle spielt Unternehmenskultur dabei?

Eine Kultur, die ständige Überpräsenz belohnt, verstärkt und normalisiert High-Functioning Anxiety.

Ist High-Functioning Anxiety behandelbar?

Ja, durch langfristige Strategien wie kognitive Therapie, klare Grenzen und bewusste Prioritätensetzung.

Kann Meditation helfen?

Achtsamkeitsübungen und Meditation können helfen, innere Anspannung zu reduzieren und den Fokus zu verschieben.

Wie wirkt sich High-Functioning Anxiety auf Führungskräfte aus?

Sie neigen dazu, zu kontrollieren statt zu führen, und vermeiden risikobehaftete Entscheidungen.

Ist High-Functioning Anxiety im Homeoffice stärker?

Häufig ja, da die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verschwimmen und Pausen schwerer eingehalten werden.

Wie erkenne ich, ob ich betroffen bin?

Wenn Erfolge kaum Erleichterung bringen und Sorgen dauerhaft bestehen, könnte High-Functioning Anxiety vorliegen.

Können Unternehmen vorbeugen?

Ja, durch gelebte Work-Life-Balance, realistische Zielsetzungen und unterstützende Führungskultur.

Was passiert, wenn High-Functioning Anxiety unbehandelt bleibt?

Langfristig drohen Burnout, psychosomatische Beschwerden und Leistungsverlust.

Gibt es Unterschiede zwischen B2B- und B2C-Umfeldern?

Im Kern ähnlich, aber B2B-Führungskräfte erleben oft stärkeren Druck durch langfristige Kundenbindungen.

Kann High-Functioning Anxiety auch Vorteile haben?

Kurzfristig treibt sie Leistung. Nachhaltig betrachtet überwiegen jedoch die Risiken und die gesundheitlichen Kosten.

Ab wann sollte man professionelle Hilfe suchen?

Wenn Sorgen dauerhaft sind, Schlaf beeinträchtigt wird oder Leistungsfähigkeit merklich leidet, sollte man Hilfe hinzuziehen.

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